Beeindruckend und hochmusikalisch: Das Niederländische Jugend-Orchester zu Gast in Trossingen

Nachwuchsmusiker:innen auf höchstem Niveau zu Gast in Trossingen

Das Niederländische Jugendorchester (JON) gastierte am 27.07.2025 im Konzerthaus Trossingen und präsentierte ein erfrischendes und zugleich hervorragend musiziertes Programm: Von Auftragswerk bis Mahler – ein begeisterter Konzertbericht.

Der letzte Akkord verklingt, die angespannte Stille im Raum ist greifbar, dehnt sich über mehrere Sekunden, um schließlich im gelösten und tobenden Beifallssturm des überschaubaren, aber schwer beeindruckten Publikums im großen Saal des Hohner-Konzerthauses aufzugehen: Das JON unter der Leitung des niederländischen Dirigenten Jurjen Hempel musizierte gut zwei Stunden auf höchstem Niveau, bewies Spielfreude, Elan und machte einmal mehr deutlich, wie wertvoll musikalische Jugendarbeit ist. Zu kaum einem Zeitpunkt innerhalb des anspruchsvollen, aber sehr glücklich gewählten Konzertprogramms musste sich das große Ensemble in hochromantischer Besetzung hinter den ebenfalls in Trossingen gastierenden „Profi“-Orchestern verstecken. Und Dirigent Hempel hatte sich viel vorgenommen: Neben Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 („Der Titan“) wählte er – in ganz klassischer Manier – noch ein Konzert (Prokofjews Klavierkonzert Nr. 2) sowie ein als Ouvertüre fungierendes Auftragswerk des 2003 geborenen Jungkomponisten Jasper de Bock (Losing, UA) für die Konzerte der Sommertournee des JON aus.

Ein Programm zwischen Trauer, Erinnerung, Freude und Stärke

De Bocks Komposition entstand unter dem Eindruck des Todes des deutschen Komponisten Wolfgang Rihm im vergangenen Jahr und wurde vom JON in Auftrag gegeben – ein Konzept, das für sich genommen schon zeigt, wie weit musikalische Jugendförderung reichen kann: Sie endet nicht beim Musizieren, sondern bezieht auch den Kompositionsnachwuchs ein – großartig!

Losing erinnert an die Klangsprache Rihms, ist im Großen und Ganzen eine detaillierte, kreative Auseinandersetzung mit einem überschaubaren Vorrat musikalischer Motive. Der Komponist erklärte kurz vor der Uraufführung, dass Rihm ihm ein großes Vorbild war und das Stück einerseits Reflexion über diese Einflüsse, andererseits ein dezidiertes „in memoriam“ sei. Beides wird in den stark dissonanten Orchestertuttiklängen hörbar, die – von ostinaten Rhythmen der Perkussion begleitet – entstehen, vergehen und kurz darauf erneut zurückkehren. Es entsteht ein fast maschineller Klangraum, der von gelegentlichen Aussetzern der pulsierend bespielten Waschbretter zum Stolpern gebracht wird.

Dem Orchester gelingt es bravourös, die im Stück deutlich – stellenweise fast zu exemplarisch-etüdenhaft – angelegten dynamischen Verläufe abzubilden, um schließlich die immer stärker werdende Spannung mit einem großen Schlag aufzulösen. „Es endet sinnlos“, hatte der Komponist das interessierte Publikum bereits informiert – und diese eschatologische Ungewissheit, das plötzlich entstehende unerklärliche Vakuum, das man beim Verlust eines geschätzten Menschen empfinden kann, schien durch Losing tatsächlich in musikalische Sprache übersetzt worden zu sein. Ein gelungenes Werk eines sehr interessanten jungen Komponisten.

Nach dieser Eröffnung trat der kürzlich mit dem 1. Preis des internationalen Königin-Elisabeth-Wettbewerbs ausgezeichnete Pianist Nikola Meeuwsen (geb. 2002) auf, der gemeinsam mit dem JON Sergej Prokofjews Klavierkonzert Nr. 2 interpretierte. Mit diesem Stück konnte Meeuwsen im Juni 2025 die Jury des renommierten Klavierwettbewerbs überzeugen; auch im Trossinger Konzerthaus brachte er die vielen Facetten von Prokofjews Musik zum Leuchten – fokussiert und stets einfühlsam begleitet vom JON, das sichtlich von der Spielfreude des Solisten angesteckt war und in den Orchesterzwischenspielen zu Hochformen gepflegt-expressiven Orchesterspiels auflief. Meeuwsens Klavierspiel war über alle technischen Schwierigkeiten erhaben: Die hochvirtuosen Passagen erklangen ebenso überzeugend wie die wenigen lyrischen Momente, die dafür umso verführerischer wirkten. Im mitreißenden zweiten Satz ließ die Präzision aller Musizierenden nur Begeisterung zu; der dritte Satz warf gefällige Schlaglichter auf den starken Bläsersatz, der in anregende Dialogstrukturen mit dem Klavier trat. Der Finalsatz vervollständigte den überaus positiven Eindruck: In den fast schon brachialen, aber akkuraten Tuttischlägen ebenso wie im poetisch-lyrisch gestalteten Seitenthema, das von mystischer Verklärung nur so duftete, wurde deutlich, dass Orchester und Solist hier auf nahezu identisch hohem Niveau musizierten. Von derart ausgeprägter Musikalität ein wenig überwältigt, nahm man Meeuwsens erdende Zugabe – Busonis Bach-Transkription Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ – dankend entgegen und war zudem froh über die Pause, die Luft für den Höhepunkt des Konzerts verschaffte.

Ein bisschen Volkstümelei und Finalapotheose: Lieben Sie Mahler?

Unbestreitbar ist Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 ein Dauerbrenner in den Konzertsälen dieser Welt – das macht die Aufführung aber keineswegs zu einem Sommerspaziergang. Zu existenziell sind die Themen, zu anspruchsvoll die Konzeption, zu groß die Fallhöhe, wenn man sich als Klangkörper in die zwischen Volksmusik und großem sinfonischen Kunstwerk situierte Mahler’sche Welt begibt.

Dem JON gelang es, eine verständliche und überzeugende Lesart dieser mittlerweile fast schon verklärten Sinfonie des Österreichers zu liefern. Der erste Satz begann mit einigen Schwächen im Zusammenspiel – gedanklich waren wohl noch nicht alle ganz aus der Pause zurück –, doch bald fand sich das JON wieder in alter Verfassung und knüpfte nahtlos an die hervorragende Leistung aus der ersten Konzerthälfte an. Hervorzuheben sind die sich durch großen Gestaltungswillen auszeichnenden Holzbläser ebenso wie die hohen Streicher, die äußerst wach und sensibel auf das inspirierte, insgesamt eher schnörkellos-geradlinige Dirigat Hempels reagierten. Nach dem schwungvollen, vielleicht eher „auf Nummer sicher“ gestalteten zweiten Satz bewiesen die Musiker:innen einmal mehr Talent für geschmackvolle Tempoübergänge, flexible Phrasierung und fokussiertes Spiel im bekannten „Trauermarsch“, der sich ausgehend vom äußerst zerbrechlichen Duo zwischen Pauke und Kontrabass auf ingeniöse Art und Weise ins Extreme steigerte.

Bekanntermaßen hat Mahler Teile der Sinfonie im Eindruck seiner Lieder eines fahrenden Gesellen geschrieben; das Lied Die zwei blauen Augen erklingt dann auch im dritten Satz. Dies war einer der wenigen Momente, in denen der rote Faden der Interpretation fast riss: Zu ungestüm, zu wenig poetisch polterte Hempel hier mit seinem Orchester herein und verfehlte die eigentlich mögliche überirdische Wirkung, die Mahlers Musik dann und wann entfalten kann, wenn man sie nur ließe. Man blieb also vorerst im „irdischen Jammertal“, doch die Apotheose kam erfreulicherweise doch noch: Der vierte Satz versöhnte, war zupackend gestaltet und dramatisch-expressiv musiziert. Spätestens beim großen Finale mit stehendem Hornsatz, Tschingderassabumm im Schlagwerk und ums Leben geigenden Violinen zog das Niederländische Jugendorchester das Publikum wieder vollständig in seinen Bann und brachte dasselbe dem Musenhimmel ein Stückchen näher. Doch auch hier weilte man nicht allzu lange: Die schöne Zugabe, Edward Elgars Nimrod aus den Enigma-Variationen ist Musik eines Musikers an seine Freunde. Und genau so fühlte man sich auch im Konzert: Da musizieren Freunde für Freunde guter Musik auf allerhöchstem Niveau, jung, frisch und inspiriert – Was für ein großartiges Konzerterlebnis!

– Adrian T. Brenneisen

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