
«Für mich ist es wichtig, dass man Dinge zusammenbringt» – dass dies das Credo des im vergangenen Jahr an die Trossinger Musikhochschule berufenen Kompositionsprofessors Sven Daigger ist, konnten die zahlreichen Besucher:innen des Antrittskonzerts am Mittwoch, den 11. Juni 2025, in jeder Minute des zweieinhalbstündigen Programms in zwei Teilen hören, spüren, sehen und erleben. Die erklingenden Werke aus Daiggers umfangreichem Œuvre erwiesen sich als äußerst vielgestaltig und mitreißend – aber auch als herausfordernd, für Ausführende wie Publikum gleichermaßen.
Waldfegen – Eine Rundfunkoper wird sichtbar gemacht
Der Konzertabend begann mit einer Erstaufführung: Sven Daiggers von SWR2 und hr-kultur 2022 produzierte Rundfunkoper Waldfegen, die eigens für das Trossinger Publikum zum Bühnenstück transformiert wurde, thematisiert die Legende um das Leben des deutschen Aktionskünstlers, Bildhauers, Zeichners und Kunsttheoretikers Joseph Beuys. Im erhellenden Pausengespräch, das Prof. Dr. Kai Lothwesen (Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Musikhochschule) mit seinem Kollegen Daigger führte, beschrieb der Komponist anschaulich die Herausforderungen, die entstehen, wenn man eine eigentlich nur für das Ohr gedachte und zudem durchwegs digital produzierte «Rundfunkoper» wieder zurückübersetzt in ein performatives Konzertsetting, das – ein für Daigger wesentlicher Aspekt – den großen Reiz des «performativen Risikos» in sich berge, da Kunst hier aus dem Moment heraus entstehen könne. Dieses Kunsterleben wurde maßgeblich durch die Rhythmik-Studierenden Jiahui Shi, Miriam Schmidt, Kiana Richter und Deng Pan ermöglicht, die Daiggers Musik in einer von Katja Erdmann-Rajski, Jemima Karl und Yiwen Tang erarbeiteten Choreografie in Bewegung setzten und die akustische Ebene um eine eindrucksvolle visuelle Dimension bereicherten. Der Clou der Dramaturgie bestand in einer selbstreferenziellen Aufführungssituation: Der gesamte Konzertsaal wurde zur Bühne, das Sehen zur choreografischen Handlung, das Zuschauen zum aktiven Bestandteil des Geschehens. Die in diesem Moment erlebbare Kunst wurde offen und mitgestaltbar – ganz im Sinne Beuys’, der mit dem Satz «Jeder Mensch ist ein Künstler» berühmt wurde. So kamen in diesem ersten Teil des Konzerts tatsächlich viele «Dinge zusammen», die Waldfegen zu einem außergewöhnlichen Programmpunkt machten – und zugleich die hohe künstlerische Qualität der Trossinger Rhythmik-Studierenden eindrucksvoll demonstrierten.
«Fluss und Form – Musik in Bewegung» mit schillernden Facetten der Instrumentalmusik
Von «Musik und Bewegung» wandelte sich die Perspektive im zweiten, gut einstündigen Konzertteil zur «Musik in Bewegung». Das dramaturgisch klug konzipierte Programm changierte zwischen solistisch besetzten Miniaturkompositionen und größer dimensionierten Werken, die sich teils fließend abwechselten. Daigger sieht darin eine produktive Möglichkeit, die einzelnen Werke miteinander in Beziehung zu setzen – vergleichbar mit einer Kunstgalerie, in der manche Bilder zu anderen „sprechen“ können: Eine Landschaft wirkt anders, wenn sie von urbanen Motiven umgeben ist. Entsprechend kann ein Flötenstück solo anders wahrgenommen werden als im kammermusikalischen Kontext. Es entsteht ein intermusikalischer Dialog, der Zugänge eröffnet – auch zur mitunter stark dissonanten und bei erstmaligem Hören schwer erschließbaren Musik des Eberbacher Komponisten, der bei der Programmkonzeption maßgeblich mitwirkte.
Den Auftakt bildete eine Auftragskomposition, die Daigger 2021 für den Mitteldeutschen Rundfunk schrieb. Der Trossinger Kammerchor brachte gemeinsam mit der Pianistin Kristina Fadeyeva unter der Leitung von Prof. Michael Alber das hochvirtuose, nur rund zwei Minuten lange Stück Zwiebel für Vokaloktett und Klavier zur Aufführung. Dieses Werk verbindet zwei von Daiggers Leidenschaften – Musik und Kochen – und ist ein eindrucksvolles Beispiel für das mit feinsinnigem Humor gewürzte Spiel mit Sprache und Klang, das Daiggers Musik an vielen Stellen auszeichnet.
Alber zeigte sich begeistert von dieser musikalischen Klangskulptur (so der Untertitel), die sich der skurrilen Beschreibung einer in Mitteldeutschland in großen Mengen angebauten Gemüseart widmet: Das Stück sei «in mehrfacher Hinsicht» herausfordernd. Den konzentrierten Sänger:innen und der virtuos agierenden Kristina Fadeyeva gelang es unter Albers Dirigat, die rhythmisch und metrisch vertrackten Passagen präzise und mitreißend zum Klingen zu bringen, den dynamischen Verlauf der Komposition prononciert wiederzugeben und dabei die Textverständlichkeit (zentral bei diesem Werk, das nur so «brutzelte, grillte, schmorte und schwitzte») in weiten Teilen bravourös sicherzustellen.
Im Anschluss an dieses überzeugende Eröffnungsstück erklangen Werke aus einer früheren Schaffenszeit Daiggers: Die vier auf das gesamte Programm verteilten Sätze (Galeriewirkung!) des Zyklus Spuren in IV Phasen für Violoncello entstanden ebenso wie die beiden Ensemblekompositionen one wind to another und … und ab dafür… zwischen 2015 und 2016. Das ensemble recherche aus Freiburg musizierte hier ausnahmslos apart und inspiriert, je nach Stück solistisch (z. B. bei Spuren mit der virtuosen Cellistin Åsa Åkerberg) oder im Verbund (dann auch mit dem sensiblen Klavierspiel Klaus Steffes-Holländers), wobei insbesondere die zupackenden Momente in Daiggers Musik sehr überzeugend und wirkungsstark interpretiert wurden: Etwa im überaus mitreißenden Trio …und ab dafür…, in dem aus bemerkenswert knappem kompositorischen Ausgangsmaterial immer wieder neu abgeleitete Ideen zum Klingen kommen, wobei Daigger hier hörbar Spaß daran findet, die Extreme in punkto Spieltechnik, Dynamik und Expressivität auszuloten. Fast grotesk wirkten hier etwa die Passagen, in welchem ein bis zur musikgewordenen Grimasse überzeichneter Marsch erklingt, der jäh evozierte Assoziationen weckt und ebenso rasch wieder auflöst.
Daigger und die Lust am musikalischen Spiel
Daiggers Lust am musikalischen Spiel manifestierte sich auch in anderen Werken: In crescendo, einer weiteren Miniatur, wurde der Titel zum Programm. Besonders spannend war hier die räumliche Umsetzung: Flöte (Anja Clift) und Klarinette (Shizuyo Oka) standen rund 20 Meter voneinander entfernt im Raum und warfen sich fein austarierte Dynamikverläufe zu – eine akustische Kommunikation, der man als Hörer:in staunend folgen konnte. Der Raum war dabei nicht nur Medium, sondern aktiver Bestandteil der Konzerterfahrung.
Das bereits erwähnte Spiel mit scheinbar Bekanntem zog sich, so hatte man den Eindruck, durch das gesamte Konzertprogramm und kam besonders im jüngsten Werk, chasing harmonics für 12 Hörner aus dem Jahr 2025 zum Ausdruck. Nicht nur glaubte man stellenweise ein Wagner’sches Motiv aus Isoldes Liebestod in den Hornmotiven zu erkennen, das Werk lebt nur so von den diversen Partikeln, die sich wie in einer Art Flüsterpost (mit dem Unterschied, dass die Hörner hier nur ganz selten flüstern…) durch die im Halbkreis platzierten Hornist:innen den Weg bahnten und «am anderen Ende» in neuer Gestalt resonierten. Wie auch in den anderen Stücken war hier ein zentrales Kompositionsprinzip das erforschende Spiel mit Klangfarbe, also mit der – physikalisch betrachtet – Konsequenz aus verschiedenen Obertonstrukturen, eben den harmonics, die in diesem vom Publikum hörbar präferierten und mit langanhaltendem Applaus bedachten Stück gejagt werden. Bedauerlich, dass im umfangreichen Konzertprogramm des zweiten Teils vorwiegend ältere Komposition Sven Daiggers berücksichtigt wurden (einschließlich der Auszüge aus den 12 Miniaturen für Flöte und Klarinette, die noch zu dessen Studienzeiten entstanden), man hätte gerne mehr von den Werken neueren Datums gehört. So erklang dann auch zum Abschluss das Quartett Strom aus dem Jahr 2011, das mit energischem und zupackendem Tonfall eine eher geräuschhafte Klangsprache bediente, die einige Male von eher statischen Klangflächen unterbrochen wurde. Das Stück wurde bravourös musiziert, stellte aber sicherlich die anspruchsvollste Aufgabe für die Konzertbesucher:innen dar und trug von allen Werken am wenigsten eine erkennbar Daigger’sche Handschrift, erschöpfte sich in sehr komplexen Strukturen und bot im Vergleich zu den anderen Stücken nur wenig Halt und Orientierung für die Ohren.
Ein Spiel mit der Musik, ein Spiel mit dem klassischen Konzertformat
Konzeptionell aufgelockert wurde das dichte Programm durch eine subtile, gerade deshalb überzeugende Lichtchoreografie von Luis Miehlich sowie zwei lyrische Intermezzi: Christian Morgensterns Windgespräch und ein Auszug aus Hermann Hesses Siddhartha, rezitiert von Angelika Vogel mit wohltönender Stimme und angemessenem Ausdruck. Inhaltlich fügten sich die Texte nicht ganz schlüssig ins Programm, waren aber eine willkommene Pause für Geist und Ohren in einem Konzert, das den Zuhörenden durchaus einiges abverlangte.
Als am Ende der sichtlich glückliche Komponist gemeinsam mit den Mitgliedern des renommierten ensemble recherche, den Sänger:innen, Instrumentalist:innen und Performance-Künstler:innen der Hochschule auf der Bühne stand, war sichtbar geworden, was Daigger mit seinem Credo meint: «Dinge zusammenbringen» – musikalisch, performativ, menschlich. Man kann nur hoffen, dass Konzertformate dieser Art künftig häufiger in Trossingen zu erleben sind. Denn hier zeigte sich ein möglicher Weg für die Zukunft der Musik – und mit Sven Daigger ein Komponist, der diesen Weg gemeinsam mit Studierenden und Publikum versiert und inspiriert gestalten kann.
– Adrian T. Brenneisen

(c) Peter Adamik
Sven Daigger wurde in Eberbach am Neckar geboren. Sein Schaffen umfasst Werke für Musiktheater, Orchester, Kammermusik, Tanz und Vokalmusik. Im Jahr 2024 erhielt er den Ruf zum Professor an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen und unterrichtet dort Musiktheorie und Komposition.
Auftragswerke verfasste er unter anderem für renommierte Institutionen wie die Komische Oper Berlin, die Deutsche Oper Berlin, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Gewandhausorchester Leipzig, das Staatstheater Cottbus, die Staatsoper Hamburg, den Hessischen Rundfunk, den Südwestrundfunk, den Mitteldeutschen Rundfunk, den Heidelberger Frühling und die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern.
Seine Werke wurden auf renommierten Festivals wie dem Heidelberger Frühling, den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern, dem San Francisco International Arts Festival, der Salzburg Biennale, den Gezeitenkonzerten, dem Zeitgenuss Karlsruhe, dem Contemporary Art Festival Budapest und dem ARD Musikwettbewerb München aufgeführt.
Zu seinen Interpreten gehören renommierte Orchester wie das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, die Jenaer Philharmonie, das Philharmonische Orchester Heidelberg, die Norddeutsche Philharmonie Rostock und das eroica Berlin. Dirigent*innen wie James Gaffigan, Benjamin Goodson, Titus Engel, Gabriel Venzago, Jakob Lehmann, Markus L. Frank, Mario Venzago, Marc Niemann, Kenneth Kiesler (USA), Barbara Rucha und Kiril Stankow haben seine Musik aufgeführt. Künstlerische Zusammenarbeiten pflegt er mit verschiedenen Ensembles, darunter die Schola Heidelberg, das KlangForum Heidelberg, das ensemble recherche, das earplay ensemble (USA), das Zafraan Ensemble, das Ensemble MIET+, das Susan und Sarah Wang Klavierduo, sowie Solist*innen wie Salome Kammer, Lini Gong, Gabriele Rossmanith, Frank Dupree, Alice Lackner, Fabian Müller, Diana Tishchenko, Eduard Brunner und Simone Drescher. Daigger studierte Komposition bei Peter Manfred Wolf, Adriana Hölszky und Wolfgang Rihm sowie Musiktheorie bei Birger Petersen und Jan Philipp Sprick in Rostock, Salzburg und Karlsruhe. (Quelle: Homepage des Komponisten)